Donnerstag, 11. September 2008

Norwegen ist wie Deutschland, weil

Ich wurde vom Klopfen meines auch noch etwas müde dreinblickenden polnischen Mitbewohners geweckt. Ich habe ihn Dada getauft, weil er der englischen Sprache gelegentlich etwas dadaistisches verleiht - nicht absichtlich, geschweige denn mit künstlerischer Absicht - ein Schicksal das die meisten von uns wohl teilen, mich wahrscheinlich eingeschlossen. Da Dada aber nur mit Ansage funktioniert, denn sonst sind die geistigen Barrieren zu hoch, musste irgendwo ein Urheber auszumachen sein. Ich bemühte mich also meine noch vom Schlaf verklebten Augen aufzubekommen - und siehe da: es stand mir der putzmuntere Schroeder gegenüber. Wir hatten beide die Hände an der Türklinke, er vermutlich eher, um das Appartement schnell wieder verlassen zu können und sich das morgendliche Szenario nicht auch noch in fremden Sphären antun zu müssen. Ich hingegen war gezwungen gewesen, mein Zimmer für Besucher betretbar zu machen, denn Dada hatte auf mein „Hmmm, jaa....“ nicht damit reagiert, meinem Gast die Tore zu öffnen. Verständlicherweise, die Distanz war auch erhaltenswert - es reichte, wenn wir uns eine Toilette zu teilen hatten.
Mir blieben, da der Wecker es wie so schrecklich oft nur geschafft hatte, meinen Schlaf dafür zu unterbrechen, ihn auszuschalten, etwa dreißig Minuten um mich startbereit zu machen. Ohne Instantkaffee also der Take-Off in die unendlichen Weiten der norwegischen Bürokratie. Mein Mitleid mit den Fixsternen am Amtshimmel war aber begrenzt. Ihr Jahrtausende umfassender Erfahrungshorizont beherbergte sicherlich Schlimmeres als ungeduschte Füchse. Außerdem dreht man sich ja auch nur um sich selbst.
So begab ich mich in Begleitung des wie immer adrett gekleideten Schneider und an meinem schnell geschmierten Frühstück nagend auf den fünfundzwanzigminütigen Marsch auf Kristiandsands babylonischen Turm. Nach dem von Seven Eleven frisch aufgebrühten Fairtradekaffee, es sei denn, der sich vom Himmel stetig auf uns niederlassende Flüssigkeitsfilm spülte die Sandkörner hinfort, trieb uns der Tatendrang in den Aufzug und drückte den Knopf für das Immigration Office in Stockwerk Nummer fünf. Dort wurden wir vom Bürgeramtsschick des zwanzigsten Jahrhunderts empfangen: weiße Wände und ebensolches Mobiliar, dessen leicht abwaschbare Oberfläche von einzelnen Holzapplikationen stilecht aufgelockert wurde. Die in angenehm wärmendes Neonlicht getauchten Poster auf Raufaser - vermutlich ERFURT, man globalisiert schließlich auch im Norden fleißig - breiteten die ganze Palette europäischer Gastfreundschaft vor den Augen der hoffentlich arbeitswilligen Bewerber um eine Aufenthaltsgenehmigung aus. Ein überdimensionierter Schlüssel mit der Aufschrift ‚Norsk’ auf seinem Bart, bärtige Männer in der afghanischen Wüste aus Steinen, zum Glück ohne Gewehre, dafür aber unter dem Slogan ‚Norwegian Board for the Re-Integration of Afghan Refugees’ - NBRAR. Als König über dem Triumvirat des Hohns prangte in der Mitte das Bild eines abhebenden Flugzeugs - Wind Nordost, Startbahn 03 - von hinten.
Ein schrecklicher Gedanke breitete sich vom grauen PVC-Boden über meine Beine bis hin in den Nacken, in dem die Haare schon wieder ein bisschen zu lang wurden, aus. Was, wenn ich bald in ebenjenem Flugzeug säße, abgeschoben nach Tyskland. Wo doch mein Norwegisch allenfalls dem Niveau eines zweieinhalbjährigen Hasen entsprach, der im Stall langsam fett werdend hier und da mal ein Wort aufgeschnappt hatte, meine Familie viel leichter zu ermitteln war als die meisten am Hindukusch beheimateten und, als bestes Argument von allen, nach Hamburg, Nürnberg, Berlin, Leipzig oder Frankfurt täglich auch noch zweifellos mehr Maschinen abhoben als nach Kabul? Doch dann kam mir eine kleine Erleuchtung und ich wusste, warum man mir schlussendlich doch erlauben würde, zu bleiben, da konnte es noch so simpel sein, mich zurückzuführen. So banal wie einleuchtend: ich war Europäer, noch dazu Student, ergo - zumindest rein theoretisch - ein angehender Bundeskanzler, Kernphysiker oder, viel gefährlicher, Führer eines Weltkonzerns. Was konnte so ein abgelehnter Afghane schon anrichten? Sich einen Bombengürtel um den Bauch schnallen und ein paar uniformierte Untertanen der Krone in den Himmel entsenden? Da war doch meine potentielle Letalität als hypothetischer zukünftiger Boss von Daimler viel größer. Logischerweise musste man sich also gut stellen mit mir - bei so vielen Unbekannten.
Da die unbeschäftigte Dame hinter einfachem Glas zu unserer Linken nicht für uns zuständig war, zogen wir eine Nummer: Knopf drücken, Zettel ziehen, Kopf schütteln. Number 91 - 22 waiting applicants. Seltsamerweise brauchte man auf dieser Stufe des Prozesses noch gar kein Norwegisch. Keiner der Polsterstühle war mehr frei, also zogen wir uns in eine Ecke zurück, wo wir den leeren Blicken unserer bereits leicht sedierten Mitbewerber - der Nummern 69 bis 90 - nicht ganz so schonungslos ausgeliefert waren, und füllten unsere Anträge aus. Schroeder hatte sich im Internet ein Formular speziell für Studenten ausgedruckt, ich hingegen war nur mit der Standardausfertigung ausgestattet, die wir von der Uni bekommen hatten, obwohl ja in der Begrüßungsmappe gestanden hatte, wir sollten uns im Web eine Version besorgen. Aber warum bloß, wo wir doch schon eine zumindest nicht unpassende erhalten hatten? Jedenfalls hatte ich dementsprechend weniger Kästchen zu bekreuzen und Linien zu bekritzeln. Nach dem Erfüllen unserer Schreibpflicht war mein lieber Mitstreiter dann auch so ermattet, dass er es kaum mehr aushielt, zu bleiben. Weitere fünfzehn Minuten Wartens später war das Rufen seines Klaviers zu laut geworden, um dem sirenenhaften Sog weiter zu widerstehen, und er verzog sich. Damit war ich jetzt doppelt benummert, konnte der jungen Dame aus St. Gallen, die sich in der Zwischenzeit zu uns gesellt hatte, also zwölf Plätze zum Geschenk machen. Im sich anschließenden Gespräch mit den anderen Austauschstudenten lernte ich dann, wozu man in der Schweiz Volkswirte braucht. Die Hälfte ist für UBS. Ähnlich und noch weniger interessante Dinge ließen die kommende Stunde dann auch wie im Fluge vergehen. Hochschulsystem in Tschechien? Kenn ich jetzt auch.
Den Geist öffnete ich regelmäßig als Antwort auf den freundlichen Gong, der signalisierte, dass die Anzeige über einer der beiden Kabinen, in die auch mein Antrag getragen werden wollte, eine Zahl weiter gesprungen war. Bei 78 schaute ich noch mal auf meinen Zettel - ich war leider immer noch die 91.
Vor der Front der fünf Fenster hielt der Regen an und machte zusammen mit den vorbeiziehenden Wolken aus dem Glas eine Wetterscheide. Drinnen die Trockenheit in Luft und Laune - draußen die feucht-fröhliche Exposition eines herannahenden skandinavischen Herbstes. Die Aussicht auf den Fußweg zur Uni war also nur insofern positiv, dass sie die Flucht aus diesem inzwischen fast zeitlos gewordenen Raum in sich barg.
Ich hätte es wissen können, es wurde angekündigt von Elena, der Schweizerin - und auch das Kompendium, dass den Antrag enthalten hatte, war schon so freundlich gewesen, auf den Bedarf an zwei Passbildern hinzuweisen. Die Dame trug Brille, vielleicht sah sie deshalb klarer, aber ich hatte mich auf das von einem böswilligen Mitmenschen gestreute Gerücht verlassen, das System könne sich mit der Kopie meines Ausweises bescheiden. So ging ich hoffnungsvoll in den Glascontainer, der plötzlich mirakulös die kaum noch ernsthaft erhoffte magische Zahl zeigte, die mir Einlass gewährte. Sesam öffne dich! Doch kaum eine einzige kleine Minute überlebte die Suggestion: nix Kopie, stattdessen Arbeitsbeschaffung für die lokalen Fotografen, weil der die Lobby bewohnende Automat kaputt war. Zumindest das hatte der verachtungswürdige Freund des Gerüchts wahrheitsgetreu berichtet. Man brauchte zwei Bilder, eines für den Ordner, eines für meinen Brief. Den müsste ich dann wahrscheinlich später ständig mit mir herumtragen und auf Verlangen vorzweigen.
Es war wie... wie immer: die Trauben hingen hoch für den Fuchs. Ich sagte also OK und dachte FUCK YOU. Registriert euch doch selbst, ihr Reiter der Formulare, ihr Magier der Aktenschränke. Füchse sind keine Rudeltiere und Tollwut macht an Grenzsteinen keinen Schritt zurück. Ihr wollt zwar wissen, wo ich bin, doch macht das für mich keinen Sinn.
We’re creating a unified uniform world with chain letters and chains of humans demonstrating for victims of rising rice prices. We’re still dreaming of a common idea for mankind, making us all believe in the good of the cause or at least a sense in all this, something that puts us on a shared base. We’re talking about the liberation of peoples, of bringing them democracy to eventually become one race we actually already are! But still you have to collect pictures, still you decide on individual fates by conformist rules, you judge persons by their looks or their religions or, even worse, by their presumed income. You are the ones who are building bombs and walls and fences, who are sending troops in remote parts of this planet - to keep your economy running. For your personal gain you are fighting against what should be fought for. How do you dare to assume I could submit myself to your criteria. They just don’t apply.
Etwas in dieser Art hätte ich der Glasscheibe sagen sollen, die mich von der Sachbearbeiterin trennte, welche mich auch noch darauf hinwies, dass ich den Antrag ohne Bilder nicht dalassen könne. Vielleicht meinte sie, er könne verschwinden, im Rachen des Akten fressenden und dann neu bewertet ausspuckenden Monsters. Denn weiter wäre diese Aussage ja nicht gekommen, der Schall hätte sie ein paar Mal unerhört hin- und herfliegen lassen - Basta. So fand all die Wut, Erregung, Gereiztheit Resonanz nur in meinem Schlucken, hallte gerade so laut im Magen wider, um als Beschluss in mein Gehirn zu schießen, jetzt eben ein Illegaler zu sein.

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NACHTRAG

Bin ich natürlich nicht, ich war nochmal da. Mit zwei selfmade Passbildern: selbstgeschossen und selbstgedruckt. Von Schroeder und mit Gelbstich. Konnte ja keiner ahnen, dass der Staat es schafft, den meckernd davonziehenden Fuchs auf die Leiter zu zwingen. Bei Androhung von 900 Kronen Strafe oder so. Alkohol in der Öffentlichkeit zu trinken wäre übrigens teurer.